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Seismografin im Zeichnungsraum

Zu Beginn liegt auf dem Boden ein großer Bogen weißes Papier. In schwarz gekleidet, die Ohren bedeckt von großen Kopfhörern, setzt die Künstlerin einen Fuß auf das Papier. Sie betritt den Raum, der durch dieses Papier umrissen ist - wie eine Bühne. Auf der Seite liegen lange Bambusstäbe mit unterschiedlichen Pinseln, sowie Stifte und Kohlestücke bereit. Behutsam hebt sie zwei der Stäbe auf, und beginnt, in langsamen, präzise geführten Bewegungen Spuren auf die Fläche aufzubringen. Klack - klack - zisch - schab - schab... Stille. Leises Rascheln, Reibung von weichsohligen Tanzschuhen auf dem Papier, das sich langsam unter den mal kurzen, mal weitausholenden Bewegungen zu füllen beginnt. Dann ein wildes Stakkato, kurz und heftig, Punkte und kurze Striche verdichten sich jetzt zu schwarzen Strichwolken. Die Künstlerin ist ganz bei sich, hoch konzentriert. Eine, die es gewöhnt ist, nach innen zu lauschen. Wer dem zuschaut, begreift sofort, dass ihre Bewegungen auf die Töne aus den Kopfhörern antworten. Auf Töne, die nur sie hören kann. Silent Disco. Wir sehen beide Hände der Künstlerin in einer Mischung aus Losgelassenheit und Virtuosität aus der Mitte des Körpers über die Arme Impulse empfangen und, ohne jeden Eindruck von Willkür oder Beliebigkeit, aufs Papier übertragen.

Katja Pudor beschreibt ihr Verfahren selbst mit dem Bild einer seismografischen Apparatur. Sie macht sich selbst zum Instrument, lässt sich berühren und in Schwingung versetzen: "Mich als Resonanzkörper zur Verfügung zu stellen". Wo allerdings die Metallnadel des Seismografen äußere Erschütterungen mit mechanischer Präzision visualisiert, überträgt ihr lebendiges Körper-Instrument Spuren komplexer Seelenbewegungen und innerer Erschütterungen aufs Papier. Die Objektivität der künstlerischen Seismografin entsteht dabei über eine Technik, die sie aus der buddhistischen Meditationspraxis entlehnt. Sich ganz leer machen und nur noch beobachten. Spüren. Gedanken und Gefühle kommen lassen, die Reaktionen des eigenen Körpers urteilsfrei wahrnehmen, die Impulse des eigenen Willens, den Gestaltungsdrang auflösen und stattdessen hinhören, was aus der Stille aufsteigt. Stichworte dieser Praxis sind Achtsamkeit und Deep Listening.
In einer Zeit, in der überall und dauernd Geräusche und Musik auf uns einströmen, in der wir lernen müssen, die digitale Informationsflut zu navigieren und unsere überforderten Systeme zunehmend Mühe haben, sich ganz auf etwas einzulassen, wird immer deutlicher, dass es hier Balance braucht. Ein anderes, tieferes Hinhören - ein Beforschen, Befragen, ein Wirken-Lassen. Ein Hinhören, das die eigene Resonanz wahrnimmt, mit einbezieht und zum Ausdruck bringt - in völliger Hingabe an den Dialog zwischen Innenwelt und Außenwelt.
Katja Pudors Zeichen-Performances zielen auf das Erschließen dieses Feldes: ,,Zeichnen ist für mich eine konzeptionell forschende wie physische Arbeit", sagt sie in ihrem Beitrag in der von ihr und Matthias Beckmann im Jahre 2022 kuratierten Berliner Gruppenschau "Über die Zeichnung hinaus". Sie untersucht in dieser Forschungsreihe sowohl die Entstehung einer Zeichnung, als auch die Beziehungen zwischen Klang und Körper und ihrer Vermittlung durch den Hörsinn: ,,Wie verhält sich mein (Resonanz-) Körper? Wie verhalten sich die inneren Schwingungen und äußeren Spannungen zueinander?"

Den Impuls, diese ganz eigene Form der forschend-experimentierenden Zeichnungs-Performance zu entwickeln, zog Katja Pudor aus der Pandemie. In der Zeit des zwangsweisen Rückzugs ins Studio begann sie, aus ihrem Körper im Dialog mit dem Papier eine Art Instrument zu machen und Gehörtes in Bewegungsspuren zu übersetzen. Die Konstanten ihres Versuchsaufbaus bestehen aus Raum - Papier - Körper - Stift/Pinsel - und einem akustischen Signal. Die Varianten entwickelten sich zunächst in kleinen Formaten, die sie aus liegender Position heraus rechts und links von sich be-zeichnete. Zunächst entstand so ein Zyklus von Interpretationen der 32 Beethoven Klaviersonaten. Es folgten mittlere Formate, in denen die Künstlerin mit beiden Händen wie an einem Klavier "spielte", und schließlich eine schrittweise Erweiterung des Verfahrens ins raumfüllende Großformat und zum mehrtägigen Happening. Ihre Liste von ,,bearbeiteten" Kompositionen umfasst unter anderem Werke von Bach, Beethoven, Vivaldi, Steve Reich, Meredith Monk, Caroline Shaw, Ruth Wiesenfeld und Thomas Gerwin.

Als weitere Variante entwickelte Katja Pudor parallel dazu auch einige Performances, bei denen sie ohne Kopfhörer mit live spielenden Musiker:innen interagiert. Die Zuschauer:innen erleben dann nicht nur das etappenweise Anwachsen der Zeichnung mit, sondern partizipieren, wie jüngst bei einer Kooperation mit dem Bergstrom Kollektiv in Erfurt, in dem nun auch für sie geöffneten akustischen Raum am Prozess.
Neben der Musik experimentiert die Künstlerin seit langem in ähnlich suchender Weise mit der zeichnerischen Anverwandlung von Texten. Sie nennt die daraus entstehenden Arbeiten selbst ,,Verzeichnungen". Es sind Collagen, Überdruckungen, Palimpseste und dekonstruierende Nachschriften - gleichsam physische Lektüren und Dokumentationen der künstlerischen Aneignung, in denen eine intensive Auseinandersetzung spürbar wird. Sie nennt sie unter anderem "Protokolle des Erinnerns", und verweist damit auf die komplexen Prozesse, welche aufgenommene Inhalte beim Vergessen und Wiedererinnern im Archiv unseres Gedächtnisses durchlaufen.

Pudors performative Aneignungen von Texten und Musik sind dabei immer Aktualisierungen, unwiederholbar und an den Moment ihrer Entstehung gebunden. Roland Barthes verwies darauf, dass jede Lektüre eines Texts einmalig ist - eine einzigartige Realisierung, die sich unter unwiederholbaren Bedingungen ereignet. Die nächste Lektüre geschieht, logisch zwingend, unter neuen Vorzeichen. Auch nach Heraklit ist es bekanntlich nicht möglich, zweimal in den gleichen Fluss zu steigen. Katja Pudors Performance-Zeichnungen sind derartige Aktualisierungen: Selbst wenn sie das gleiche Stück wieder hört, den gleichen Text nochmal liest, entsteht eine andere, einzigartige Spur auf dem Papier. Dennoch sind diese Arbeiten keine spontanen Improvisationen. Sowohl den Textarbeiten als auch den Musik-Visualisierungen geht immer eine gründliche, begründende Vorbereitung voraus, in der die Künstlerin das fremde Werk tief verinnerlicht. Für den kurzen Zeitraum der Performance hält sie dann durch ihre Bewegungen die rationale Ebene von Konzeption, Vorbereitung und Kompositionswillen mit der bedingungslosen Hingabe an das körperlich-emotionale Erspüren des Moments in einer kunstvollen Balance.
In dem Wechselspiel zwischen visueller Kontrolle und akustischem Empfangen geht die Künstlerin der philosophischen Frage nach den unterschiedlichen Zugängen unserer Sinne nach. Sie tut dies unter anderem, indem sie sich Texte des französischen Gegenwartsphilosophen Jean Luc Nancy künstlerisch erarbeitet. Mit seinen Essays zum Gehör (2002) und zur Ausdehnung der Seele (2000) unternahm dieser nichts Geringeres, als das traditionelle, von der intellektuellen Evidenz geprägte cartesianische Denken infrage zu stellen - und durch eine Erforschung des auditiven Feldes mit Rhythmus, Klang, Schall, Geräusch und Gesang einen bisher noch wenig erkundeten Denkraum aufzutun, der wegweisend für eine künftige Philosophie des Miteinanders sein kann: Resonanz statt Evidenz. Indem die Künstlerin den Text "Ausdehnung der Seele" ihrem seismografischen Verfahren unterwirft und mit eigenen Wahrnehmungsprotokollen verwebt, setzt sie die darin formulierten Überlegungen in Kunst um - sie geht in Resonanz: "Der Text, das fremde Werk ist Anlass, die Welt in mir zu suchen". Und diejenigen, die sich auf ihre Arbeiten mit ähnlicher Intensität einlassen und an ihren Performances teilnehmen, die bereit sind, sich affizieren zu lassen, können erleben, wie sich die Grenzen aufzulösen beginnen und in alle Richtung Veränderung geschieht. Katja Pudor beruft sich dabei auf den Philosophen Byung-Chul Han, der schreibt ,,Wer sich den Anderen aneignet, bleibt nicht derselbe. Die Aneignung bringt eine Transformation des Selbst mit sich. ... Nicht nur das Subjekt der Aneignung, sondern auch der angeeignete Andere wird transformiert." In ihrer künstlerischen Praxis positioniert sie sich bewusst in einem Feld von Beziehungen. Sie geht in Verbindung mit anderen Künstler:innen, mit Zeit, mit Landschaften und mit architektonischen Orten. Mit dem Beginn jeder Zusammenarbeit öffnet sich ein neuer, kollektiver Arbeitsraum, in dem sich aus der Gemeinsamkeit etwas Einzigartiges, oft auch Unerwartetes entwickelt.

Als Betrachter:innen der Drawing-Performances kann man sich von der konzentrierten Intensität anstecken lassen, mit der die "Seismografin" der inneren Bewegungen des Körpers die empfangenen musikalischen Impulse zu Papier bringt. Vielleicht kann man noch versucht sein, die entstehenden Formen als quasi kalligrafische Schriftzeichen lesen" zu wollen, muss aber schließlich feststellen, dass sie sich jedem rationalen Erschließen irgendwann entziehen. Die von diesen Arbeiten angebotene Evidenz ist nicht die Klarheit, die wir gewohnt sind, mit dem, was unsere Augen sehen, zu assoziieren. Sie könnte allerdings das sein, was Nancy als "dunkle Evidenz" unserer Vorstellung von "Wissen" gegenüberstellt. Vielleicht entspricht dann, das, was sich hier überträgt dem, was bereits von Platon in seinem Dialog Ion als Wirkung von Kunst beschrieben wurde: Eine Form der Energie, die sich wie bei einer ,,Magnetkette" der Inspiration vom Musengott Apollon über seine Töchter zum Dichter und dem Rhapsoden als Vortragendem aufs Publikum überträgt - und die vom Intellekt allein nicht zu fassen ist.

Almut Hüfler (Literaturwissenschaftlerin, Kuratorin), 2023